Was hat Nachhaltigkeit mit Populismus und verfehlter Demokratieentwicklung zu tun?
Eine psychologische Antwort auf die vielleicht drängendste aktuelle Frage
Von Prof. Stefan Brunnhuber
Dass populistische Welterklärungen zunehmen, autokratische Führungsstile Zulauf bekommen und Demokratien im westlichen Sinne an Boden verlieren, ist eine der unstrittigen Zeitdiagnosen der letzten Monate und Jahre. Gestritten wird eher darüber, warum das so ist. Also warum wir mehr Populisten und Autokraten und weniger gefühlte Demokratien haben. Und es mangelt nicht an Erklärungen. Eine lautet, dass wir in einem ‚postfaktischen Zeitalter‘ leben, in welchem es gar nicht mehr um Wahrheit und Objektivität geht, sondern nur noch um Stimmungen, subjektive Emotionen und freie Assoziationen mit quasi-politischem Anspruch. Ich glaube, diese Einschätzung ist falsch. Das hat damit zu tun, dass wir noch niemals in einem faktischen Zeitalter gelebt haben, sondern immer noch in einem prä-faktischen. Wenn die objektiven Fakten jemals eine führende Rolle gespielt hätten, dann hätten wir zum Beispiel keine absolute Armut und keine Erdüberhitzung; denn wir hätten dann unser Verhalten an diesen Fakten ausgerichtet.
Nicht die ganze Wahrheit
Es gibt andere politische Erklärungen, etwa jene von den Verlierern der Globalisierung, den Abgehängten, Nichtgehörten und Ausgegrenzten. Die These ist empirisch nicht ganz falsch, hat aber damit zu tun, dass wir ebenfalls immer schon in Gesellschaften gelebt haben, in welchen wir uns mit Fremden und Andersdenkenden auseinandersetzen mussten. Und Menschen, die sozial ausgeschlossen waren, gab es statistisch auch immer schon. Nun kann man argumentieren, dass es das Ausmaß und der Umfang der Globalisierung, Technologisierung und Beschleunigung ist, die Menschen demokratiefeindlicher macht und gegenüber Populisten und Autokraten zugänglicher. Auch dafür gibt es empirische Befunde, sie erzählen aber nicht die ganze Wahrheit.
Statt Sozialtherapie – eine gesellschaftliche Transformation
Hierher gehört etwa die Erklärung, dass sich rechte Populisten und Autokraten nur deshalb so lautstark etablieren können, weil den Vertretern links der Mitte die großen Themen ausgegangen sind. Hier werden nur noch Nuancen, sozialpädagogische Aufklärungen, Gleichstellungsfragen diskutiert, die alle wichtig sind, aber den Blick für die große Alternative vermissen lassen: Also die Rechten sind stark, weil die Linken zu schwach sind. Schließlich gibt es eine eher psychologische Erklärung, welche davon ausgeht, dass wir unangenehme Wahrheiten eher vergessen und jene sich solange wiederholen müssen, bis dass sie gelöst sind. Sicherlich auch richtig. Dennoch geht es bei den anstehenden Herausforderungen weniger um eine Sozialtherapie, als um eine gesellschaftliche Transformation. Die ganze wäre deutlich einfacher, wenn wir anfangen würden, uns endlich die Wahrheit zu sagen, vor allem darüber, wie wir leben wollen, wie wir fairer verteilen, wie wir dabei gleichzeitig die Natur und unsere Zukunft weniger zerstören und was das alles mit uns selbst zu tun hat. Es geht folglich um das richtige gesellschaftliche Narrativ. Dabei ist es fast gleichgültig, wer diese Geschichte nun erzählt, sie sollte nur richtiger sein, als alles, was wir uns derzeit erzählen. Oder anders: Welche Erzählung umfasst die bisherigen und trägt noch etwas Zusätzliches bei. Welches Narrativ ist also das größere?
Die Suche nach dem richtigen Narrativ
Jeder kennt das Seerosenteich-Experiment. Es geht so: Eine Seerose befindet sich in einem Teich und ihre Anzahl verdoppelt sich jeden Tag. Am vorletzten Tag ist der Teich halbvoll. Was passiert morgen? Der Teich ist dann vollständig mit Seerosen bedeckt, er kippt um und stirbt. Das ist eine exponentielle Entwicklung. Wir haben aber bekanntlich kein Sinnesorgan für exponentielle Entwicklungen. Wir reagieren entweder gar nicht, zu spät oder falsch. Die Entwicklungen im Zeitalter des Menschen (Anthropozän) zeigen, dass nahezu alle menschlichen Aktivitäten, spätestens seit 1950 jedoch, eine exponentielle Entwicklung genommen haben. So etwa Wasserverbrauch, Landversiegelung, Co2- und Methaneinträge in die Atmosphäre, Nitratbelastung, Schwermetallbelastung, Plastikmüll, asymmetrische Wohlstandsentwicklung, prekäre Arbeitsverhältnisse und vieles mehr. Alles exponentielle Entwicklungen. Wenn man sich diese Dynamiken ansieht, entsteht irgendwie der Eindruck, dass es so nicht weitergehen kann, dass die Kurven abbrechen müssen, verschwinden, weggehen oder sich zumindest immer weiter von uns entfernen.
Die große Rückkoppelung
The ‚Big Loop‘ Im realen Leben ist das Gegenteil der Fall. Es entsteht eine große Rückkopplungsschleife, eine ‚BIG LOOP‘. All die Effekte schlagen auf uns zurück. Wir wissen nur nicht wann, wo und wen es konkret trifft und das löst nicht nur Unbehagen und Unsicherheiten, sondern auch Ängste und Ärger aus. Unfaire Verteilungsmuster, Verlust der Biodiversität, Erderhitzung, absolute Armut, fehlende Gesundheits- und Bildungschancen, forcierte Migrationsströme, asymmetrische Kriege und Radikalisierungen gehören sicherlich alle mit in diese große Rückkopplung hinein.
Wir haben im Westen kein wirkliches überzeugendes Narrativ mehr für all das. Das Wohlstandsmodell der Nachkriegszeit westlicher Lesart mit ständigem quantitativem Wachstum und nachgeordneter Umverteilung, Reihenmittelhaus, sozialer Absicherung und einer lebenslangen stabilen Erwerbsbiographie, einer hohen individualisierten Mobilität in Verbindung mit drei Mal Fleisch pro Woche, unzähligen haushaltsnahen Geräten, Kleidungsstücken und regelmäßigem Mallorcaurlaub − alles in Verbindung mit einem hohen Verbrauch an Wasser und fossiler Energie − ist in der Form im 21. Jahrhundert so nicht mehr globalisierbar. Das wissen wir eigentlich alle. Wir wissen noch viel mehr. Wir wissen etwa, dass unser Wohlstandsmodell eigentlich nur funktioniert, weil es bei anderen gleichzeitig nicht funktionieren darf. Wir leben eigentlich nicht über unsere Verhältnisse, sondern auf Kosten der Verhältnisse Anderer, wie der Soziologe Lessenich unlängst schrieb. Ökonomen nennen das negative Externalitäten. Ein Beispiel gefällig? Die BRD muss 5 Mill Hektar an Agrar- und Weideland im Jahr irgendwo auf der Welt aufkaufen, um ihre Bevölkerung zu ernähren, vor allem für Soja, Baumwolle.
Konsumwünsche der Bürger stillen
Die EU muss über 20 Prozent der Fischbestände außerhalb der Union zukaufen, um die Konsumwünsche der EU-Bürger zu stillen. Ein Tag an Fangbeständen hätte ausgereicht, um ein Jahr 50 Fischerfamilien in Afrika in Lohn und Brot zu halten. Noch ein Beispiel: Neben den 100 Liter an Frischwasser, welche jeder Bundesbürger tagtäglich verbraucht, benötigt er noch zusätzliche 5300 Liter ‚virtuellen Wassers’, welches in all den Produkten steckt, die wir tagtäglich konsumieren. 70 Prozent davon müssen wir irgendwo auf der Welt einkaufen, immer auf Kosten von anderen, auf Kosten der Natur oder auf Kosten der Zukunft. Bei allem, was wir tagtäglich benötigen − von Erz, Baumwolle, Kaffee, SUV, Smartphones, Soja, seltene Erden und vielem mehr − beruhigen wir uns ständig, so als ob wir es nicht wissen wollen oder nicht hören wollen. Das sind aber alles Bausteine der großen Rückkopplung, die irgendwo, anonym oder direkt, aber immer negativ auf uns zurückfällt. Ökonomen haben schon sehr früh ein, wenn auch ein unvollständiges Verständnis für solche systemischen Zusammenhänge entwickelt. Sie nennen dies dann negative externe Effekte. Das heißt, unsere wirtschaftlichen Aktivitäten produzieren eine Reihe von Nebenwirkungen, die niemand haben will, dann aber nach außen verlagert werden und in Folge nicht mehr in der Kostenrechnung auftreten und irgendwie unserer kurzfristigen Wahrnehmung entzogen sind. Adressaten sind dann die Natur, etwa beim Verlust von Arten, die Zukunft, etwa bei den Renten oder auch die sogenannte Dritte Welt, etwa durch Müllexporte, Arbeitsplatzverlagerungen oder Kinderarbeit. Aber dort bleiben die Effekte nicht stehen, sie kommen jetzt auf uns zurück.
Es gibt kein ‚kostenloses Mittagessen‘ mehr
Solange wir in einer nicht-vernetzten Welt leben, können solche negativen externen Effekte nur unter Rückgriff auf moralische und ethische Argumente eingefordert werden. Das Argument lautet: ‚Es ist unfair, all dies auf die Natur, auf die Zukunft oder die Dritte Welt abzuwälzen‘ und der Kategorische Imperativ sagt uns, dass dies alles nicht verallgemeinbar ist und deshalb zu unterbleiben habe. Es mangelt auch nicht an Problemlösungen. Die prominenteste ist die Internalisierung der negativen Effekte in unser Preissystem. Dies will heißen, wir zahlen aus der laufenden Wertschöpfung mehr für das Benzin an der Zapfsäule, wenden höhere Beiträge für die zukünftigen Renten auf und erhöhen die Entwicklungshilfe. Solche Appelle, wie wir sie etwa auch im Rahmen der CSR-Kampagnen (Corporate Social responsibility) her kennen, haben meist den Charakter der Selbstverpflichtung und sind fester Bestandteil von Fortbildungsmaßnahmen bei Unternehmen bzw. Gegenstand von philosophischen Oberseminaren. Das Argument ist völlig rational, einsichtig und faktisch auch richtig, aber es hat historisch keine notwendige Verhaltensänderung ausgelöst. Ja, mehr noch: Solche Fakten lösen niemals Verhaltensänderungen aus, auch der Verweis auf die exponentielle Entwicklung derselben nicht. Im Anthropozän ist alles anders. Hier ist alles mit allem vernetzt und man kann auf ein Argument zurückgreifen, dass der Philosoph John Rawls formuliert hat: ‚In welcher Welt wollen wir leben, wenn wir nicht wissen, wie die Verteilungsmuster aussehen werden?’ und die Antwort ist: ‚In einer Welt, in der auch die am Schlechtestgestellten von einer möglichen Wohlstandsentwicklung nicht ausgeschlossen sind‘. Dieses Rawl’sche Argument lässt sich auf die Situation im Anthropozän und seiner großen Rückkopplung anwenden, gleichsam J. Rawls 2.0. Denn wenn Alles mit Allem vernetzt ist, dann gilt es die Frage zu beantworten: ‚Wie verhalten wir uns, wenn wir zwar wissen, dass es negative externe Effekte gibt, aber nicht wissen wann und wo sie uns in welchem Umfang treffen werden?‘ In einer solchen Welt bestehen nicht nur indirekte, intellektuelle und moralische Gründe sich mit Rückkopplungen und externen Effekten auseinanderzusetzen, sondern auch ökonomische und politische Gründe. Es gibt nämlich niemand, der in einer solchen Welt leben will, in der ihn negative Rückkopplungen treffen, ohne dass er auf ein Gemeinwesen zurückgreifen kann, welches ihm bei deren Bewältigung zur Seite steht.
Demokratie und Nachhaltigkeit
Wenn es uns gelänge, die Wahrheit zu sagen und diese auch öffentlich zu vertreten, parteipolitisch und parlamentarisch zu kanalisieren, sie in Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Politik zu tragen und danach zu handeln, dann ist diese Erzählung ein Gewinn für die Demokratie. Im Großen und im Kleinen, jeder wo er gerade steht. Eine Geschichte nämlich, bei welcher wir uns gegenseitig in die Augen sehen können. Sie erzählt von Weniger ist Mehr, vom Verzicht und Demut, von fehlender Kontrolle, Machbarkeit und eigenen Fehlern, von mehr Regionalisierung und einer von Anfang an fairen Verteilung. Und das ist dann eine Geschichte, mit der Populisten und Autokraten nicht mehr viel anfangen können. Menschen vertragen die Wahrheit sehr wohl, auch wenn sie komplex und unangenehm ist. Und dass ist der Grund, weshalb ein nachhaltigeres Zusammenleben dann eine Geschichte einer wahreren öffentlichen und kritischen Auseinandersetzung wird und dies wiederum ist dann eine Geschichte der Demokratie.
Über den Autor: Prof. Stefan Brunnhuber ist Ökonom und Psychiater, Mitglied des Club of Rome und Senator der Europäischen Akademie der Wissenschaften sowie ärztlicher Direktor der Diakonie-Klinik für Integrative Psychiatrie in Sachsen. www.stefan-brunnhuber.de
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