Die Sehnsucht nach der WIR-Kultur
Überall klingt es nach „Wir“, nach Zusammenhalt, nach dem Wunsch mehr Gemeinschaft zu spüren, zu erzeugen, zu formen. Am besten sollen künftig alle mitmachen, mitgenommen werden, dabei sein und gefragt werden. Das Zukunftsinstitut untersucht in der Studie „Die neue Wir-Kultur“ die Wirkungen dieses Trends auf Märkte und Unternehmen.
Ein Interview von Elita Wiegand mit Kirsten Brühl, der Autorin der Studie.
Viele Jahrzehnte galt die Individualität als treibenden Faktor einer Gesellschaftsordnung, in der Ellenbogen, Konkurrenzdenken und Egoismus regierten. Nun ertönt überall ein „Wir“ und das zeigt sich in Kollaboration, Communities, Kooperationen, Gemeinschaften und der Sharing Economy. Inwieweit ist das „Wir“ schon Wirklichkeit?
Kirsten Brühl: Der eine Teil bewegt sich in Richtung „Wir“, einer neuen Solidarität und Gemeinschaft. Der andere Pol ist im neoliberalen Denken verhaftet und schaut auf Einzelleistungen, Erfolg und klassische Statussymbole.
Solidarität und Gemeinschaft sind doch für eine Gesellschaft erstrebenswert. Ihre Studie zeigt aber auch, dass die „Wir-Kultur“ nicht unbedingt für eine bessere Welt steht. Warum?
Kirsten Brühl: In der Studie zitiere ich viele Formen der neuen „Wir-Kultur“, die aber per se nicht immer besser oder solidarischer sind. So existieren viele Gemeinschaften, die rein auf dem Wunsch nach mehr Effizienz im Alltag basieren. Da schließen sich Menschen zusammen, um in unserer schnell getakteten Welt besser voranzukommen. Das „Wir“ kann durchaus auch der „Ich-Optimierung“ dienen, und deshalb ist das „Wir“ nicht zwingend ein Synonym für eine bessere Welt.
Sie haben in Ihrer Studie viele Beispiele der neuen „Wir-Kultur“ beschrieben. Dazu gehören Nachbarschaftsgärten, Coworking, Zukunfts-Labs, temporäre Kommunen oder Ökodörfer. Was passiert da?
Kirsten Brühl: Ich glaube, dass das „Wir“ in vielen von uns zumindest eine Sehnsucht auslöst, eine Sehnsucht nach anderen, innovativen Lösungen, die auf einer neuen Solidarität, auf Empathie und gemeinsamen Werten und Visionen beruht. Doch das ist an vielen Stellen tatsächlich noch ein Sehnsuchtsraum. In Projekten wie den Ökodörfern oder Nachbarschaftsgärten beginnt dies erste Formen anzunehmen. Gleichzeitig bilden sich aber viele „Wirs“ auf Basis der digitalen Vernetzung. Dort entstehen dann temporäre Gruppierungen auf der Suche nach mehr Effizienz. Diese Wirs sind nicht unbedingt mit gemeinsamen Werten aufgeladen. Wir müssen aufpassen, dass wir beides nicht miteinander verwechseln.
In Ihrer Studie sprechen Sie auch von einem Kuschelfaktor rund um das „Wir“. Wie bewerten Sie die Sehnsucht nach mehr Gemeinsamkeit?
Kirsten Brühl: Es gibt einige neue Gemeinschaftskonstruktionen, die das Motiv „mehr Gemeinsamkeit“ haben. Zumindest in Teilen der Gesellschaft scheinen wir auch eine Sehnsucht nach mehr Nähe, Wärme und Zusammenhalt zu haben. Ein schönes Beispiel dafür sind die Sonntagsfeiern, die analog zu den Gottesdiensten am Sonntag in der Kirche stattfinden. Ohne Doktrin und Gott trifft sich eine „Quasi-Gemeinde“ und feiert das „Wir-Gefühl“, um die Energie der Gruppe zu spüren, sich auszutauschen, in Kontakt zu gehen. Viele Menschen brauchen heute neue Orte, wo sie sich treffen und das Gemeinsame wiederentdecken können.
Das neue „Wir-Gefühl“ drückt sich vor allem in der Sharing Economy aus. Doch während einige einen Lobgesang auf die von Jeremy Rifkin propagierten „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ singen, fürchten andere den Untergang unseres Wirtschaftssystems. Wie beurteilen Sie die Tauschgesellschaft?
Kirsten Brühl: Auch die Sharing Economy ist von verschiedenen Motiven getrieben. Es gibt dort viele Modelle, die von dem Gedanken getragen sind, dass wir unsere Ressourcen gemeinsam besser nutzen können, dass leihen, schenken und tauschen einfach Sinn macht. Über digitale Plattformen wird das ganz einfach. Sobald dort Gegenleistungen oder Gebühren ins Spiel kommen, kann man das Sharen aber auch kritisieren. Das Argument ist, dass man alles ökonomisiert – und in Zukunft selbst Dinge, die früher einfach ausgetauscht wurden, nun über eine Share-Plattform anbietet und ihnen dadurch einen wirtschaftlichen Wert gibt. Doch stehen wir in der Realität mit der Sharing Economy noch ganz am Anfang. Forschungen zeigen, dass die Bewegung derzeit vor allem noch ein Großstadt-Phänomen in bestimmten Schichten ist. Da gibt es also noch viel zu lernen. Zum Beispiel müssen viele von uns erst noch eigene Erfahrungen sammeln, wie es ist, wenn wir nicht mehr die Kontrolle über Eigentum haben, sondern uns darauf einlassen, Teil eines Netzes zu werden und statt zum Beispiel einem eigenen Auto nur noch Zugang zu Mobilität haben.
Wie verändert das „Wir“ die Wirtschaft?
Kirsten Brühl: In einer vernetzten Welt stehen viele Unternehmen unter dem Druck hohe Komplexität zu verarbeiten und sehr agil sein zu müssen. Für die Führung bedeutet das, dass die Zeiten der Superhelden, die alles im Blick haben können, Orientierung geben und im Unternehmen Leuchtturmfunktion haben, vorbei sind. Heute brauchen wir mehr „Wir“, mehr Kollaboration, offene Foren, Dialogformate, um gemeinsam für die Komplexität im Außen adäquate Antworten zu finden. Es geht darum, im Inneren mehr Variabilität, mehr Reaktionsvielfalt zu erzeugen für die Herausforderungen außen. Da passiert momentan eine Menge, so dass die starren Strukturen in Unternehmen an vielen Stellen heute schon aufweichen und sich erweitern.
Werden andere daran teilhaben?
Kirsten Brühl: Wir werden weiterhin einen Großteil Mitarbeiter haben, deren Hauptmotiv Sicherheit ist. Diese Suche nach Sicherheit findet man vor allem in großen Konzernen, auch wenn dort die Sinnfrage nicht immer ausreichend beantwortet wird. Diese Mitarbeiter sind nicht unbedingt aktiv auf der Suche nach mehr „Wir“. Doch es gibt auch andere, die in Zukunft vermutlich eher nicht in klassischen Konzernkontexten arbeiten wollen. Sie sind für mehr Autonomie, Freiheit und Gestaltungsmacht bereit auf Sicherheit und Status zu verzichten und tendenziell offener für neue wir-betonte Arbeitskonstrukte. Ich glaube, dass wir auch in Zukunft beides nebeneinander erleben werden. Insofern bin ich weniger optimistisch als der Ökonom Jeremy Rifkin, der voraussagt, dass der Kapitalismus bis zum Jahre 2060 der Sharing Economy anheimfallen wird. Meiner Meinung nach werden wir in den kommenden Jahrzehnten viele Phänomene parallel erleben.
Die Jeremy Rifkin These vom Ende des Kapitalismus ist umstritten und liegt in weiter Ferne. Werfen wir einen Blick in die nahe Zukunft. Was prognostizieren Sie für die nächsten fünf Jahre?
Kirsten Brühl: In fünf Jahren sind einige Unternehmen kräftig durcheinandergewirbelt. Weil es der Markt erfordert, werden wir noch mehr Formen von Kollaboration und Kooperation sehen. Sowohl innerhalb von Unternehmen als auch von Unternehmen mit Zulieferern, Kunden und auch Wettbewerbern. Das eröffnet einige neue Entwicklungs-und Lernfelder in Bezug auf Kommunikation, auf Konfliktlösung und Entscheidungsfindung, weil wir lernen müssen, anders zu denken und zu wirtschaften, vernetzt eben. Im gesellschaftlichen Bereich werden wir viele Experimente sehen – und eine steigende Zahl von Menschen wird in fünf Jahren eigene konkrete Erfahrungen gemacht hat mit der Vernetzung im Alltag. Das wird an vielen Stellen über das Digitale passieren. Es könnte daher sein, dass sich ein Altersgraben auftut und nur die die Erfahrung einer „kollaborativen“ Wirtschaft machen, die auch wirklich im digitalen Zeitalter angekommen sind.
Das bedeutet, dass viele Unternehmen auf der Strecke bleiben. Doch wer sind die eigentlichen Verlierer und wer die Gewinner der „Wir-Kultur“?
Kirsten Brühl: Die Gewinner werden diejenigen sein, die die innere Stärke besitzen möglichst flexibel zu sein und sich auf Kollaboration und Kooperation einzulassen. Es sind die Menschen, die eine hohe Kommunikationsfähigkeit haben und die Fähigkeit sich immer wieder in neuen Kontexten schnell zurechtzufinden und zu orientieren. Es werden diejenigen zu den Verlierern zählen, die starre Strukturen und ein hohes Maß an Sicherheit brauchen, um gut arbeiten zu können. Die Sicherheit jedoch, die verlangt und gebraucht wird, lässt sich nicht mehr herstellen. Das sehen wir derzeit schon in vielen Unternehmen, in denen die Wellen der Angst und Verunsicherung hochschwappen. Da brauchen wir definitiv Ideen wie wir damit konstruktiv umgehen wollen.
Wird die Welt durch das „Wir“ ein bisschen besser, gerechter und sozialer?
Kirsten Brühl: Wenn wir es als Lernherausforderung sehen, ja. Bis dahin haben wir aber einen langen Weg vor uns, in dem wir gefordert sind, individuell und persönlich zu wachsen und uns weiter zu entwickeln. Dann kann zum Schluss eine neue interessante Wir-Kultur herauskommen. Ob und wer das will und was wir bereit sind dafür zu investieren, dazu würde ich im Moment noch keine Prognose wagen.
Über die Autorin: Kirsten Brühl analysiert als Autorin und Speakerin die großen Veränderungswellen in Wirtschaft und Gesellschaft. Als Beraterin und Business-Coach unterstützt sie Einzelne, Teams und Unternehmen dabei, sich den daraus resultierenden Herausforderungen zu stellen. Die eigenen Erfahrungen in der Arbeitswelt reichen vom Aufbau eines innovativen Start-ups bis hin zur klassischen Beratertätigkeit in einer St. Gallener Unternehmensberatung.