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Die ökologische, soziale und spirituelle Trennung überwinden 

Ein Interview mit Prof. Otto Scharmer

Otto Scharmer ist Senior Lecturer am Massachussetts Institute of Technology (MIT) und Gründer des Presencing Instituts in Cambridge, Mass. Scharmer ist Gastprofessor an der Helsinki School of Economics. Er ist ein unermüdlicher Denker und Gestalter der Transformation. Scharmer berät seit vielen Jahren Firmen, Non-Profit-Organisationen und Regierungen bei Veränderungsprozessen. Diese Erfahrungen hat er nun in einem Entwurf des gesellschaftlichen Wandels gebunden, der visionär und konkret zugleich ist.

Worin besteht Ihrer Ansicht nach unsere gegenwärtige Krise und wie können wir als Menschen darauf antworten?

Otto Scharmer: Die heutige Krise lässt sich mit drei Krisenregionen vereinfacht zusammenfassen: die ökologische Krise wie die Umweltzerstörung, die soziale Krise, Armut, Ungleichheit und die spirituelle Sinnkrise, wie beispielsweise Burnout und Depression. Die ökologische Krise ist Ausdruck einer Kluft zwischen unserem Selbst und der Natur, die soziale Krise ist Ausdruck einer Kluft zwischen unserem Selbst und den Anderen, und die spirituelle Krise ist Ausdruck einer Kluft zwischen Selbst und Selbst, zwischen dem gewordenen Selbst und dem werdenden (höheren) Selbst. Einer der Parameter, wie sich diese Kluft in entwickelten Ländern manifestiert, ist der Umstand, dass eine Steigerung des Bruttosozialproduktes nicht länger die Lebensqualität der Bevölkerung steigert. Zum Beispiel können sich die Geschäftigkeit und die Arbeitsbelastung erhöhen, aber Menschen sind depressiv und ohne Lebenssinn.

Was haben wir aus der Vergangenheit gelernt?

Otto Scharmer: Vielleicht, dass wir keine nachhaltigen Lösungen finden, wenn wir diese drei Krisen isoliert angehen und nur Einzelsymptome adressieren. Denn dann schaffen wir für jedes dieser Probleme ein oder mehrere Ministerien, ein oder mehrere akademische Abteilungen, NGOs (Non-Profit-Organisationen) und Stiftungen etc., die sich genau auf diesen einen Spezialbereich fokussieren. Für jeden dieser symptomorientierten Fokusbereiche organisieren wir Konferenzen, Förderungsmechanismen und Karrierelaufbahnen. Das Problem ist, dass bei diesem Ansatz die meisten Antworten zu kurz greifen. Wir haben nicht wirklich das Ganze in den Blick genommen, nicht die 90 Prozent unterhalb der Wasseroberfläche, wo das System wirkt, das diese Symptomlandschaft immer wieder reproduziert.

Wie können wir diese drei Themengebiete systemisch miteinander verbinden?

Otto Scharmer: Sie sind drei Manifestationen ein und desselben Grundproblems. Was sind die strukturellen Grundprobleme, wenn wir die systemischen Kausalfaktoren unterhalb der Wasseroberfläche erkunden? Wenn wir genauer hinschauen, um wirklich zu verstehen, wie das System unter der Wasseroberfläche beschaffen ist, dann sehen wir zuerst eine Reihe von strukturellen Entkoppelungen: zwischen den Finanzmärkten und der Realwirtschaft, zwischen unendlichem Wachstum und begrenzten Ressourcen, zwischen Reich und Arm und so weiter. In dem begrifflichen Bezugsrahmen, den wir entwickelt haben, sehen wir acht verschiedene strukturelle Entkoppelungen und entsprechende Akkupunkturpunkte für soziale Transformation.

Was ist der Ausgangspunkt für diese strukturellen Probleme?

Otto Scharmer: Ich glaube, dass die Hauptursache für die Krise der Gegenwart in unserem Kopf entspringt: Es beginnt mit dem Denken, das wir hervorbringen, besonders mit dem Denken über ökonomische Beziehungen und Ökonomie generell. Es beginnt mit einer ökonomischen Theorie, die auf einem Ego-System-Bewusstsein basiert.
Während die ökonomische Realität heute lokal wie global in ökosystemische Feedbackschleifen eingebunden ist, verharrt unser ökonomisches Denken immer noch auf der Stufe des Ego-System-Bewusstseins. Dieses Auseinanderfallen von ökonomischer Theorie und Praxis, das heißt vom Ego-System-Bewusstsein versus Öko-System-Realität, ist der blinde Fleck des vorherrschenden ökonomischen Denkens. Aber, wie schon Einstein bemerkte, wir können die Probleme nicht durch das gleiche Denken bewältigen, das sie hervorgebracht hat. In unserem Buch versuchen wir, einen neuen begrifflichen Bezugsrahmen dafür zur Verfügung zu stellen. Diesen Bezugsrahmen nutzen wir auch in unserer Arbeit in Transformationsprozessen in unterschiedlichen, gesellschaftlichen Schlüsselbereichen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Führungsherausforderungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen viel Ähnlichkeit miteinander aufweisen. Nämlich, dass komplexe Stakeholder-Systeme eine Transformation von Interaktionsmustern mit einem engen Ego-System-Bewusstsein hin zu Interaktions- und Kommunikationsmustern mit einem erweiterten Öko-System-Bewusstsein, das auf das Wohlbefinden aller ausgerichtet ist, durchlaufen müssen.

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Was verstehen Sie unter Ego-System-Bewusstsein und Öko-System-Bewusstsein?

Otto Scharmer: Ego-System-Bewusstsein ist ein Bewusstsein, in welchem die Weltsicht, die Entscheidungsfindung und das Verhalten weitgehend davon angetrieben werden, Wohlergehen für mich selbst und nicht für andere zu erzeugen. Das Öko-System-Bewusstsein ist eine Haltung und Weltsicht, die sich darauf fokussiert, Wohlergehen für sich selbst und für alle anderen Akteure innerhalb des Ökosystems, in welchem man lebt und arbeitet, herzustellen. Das Öko-System Bewusstsein schließt das Ego-System-Bewusstsein ein, erweitert und vertieft es aber und umfasst die gesamte Realität, mit der wir es zu tun haben.
Wenn man genauer hinschaut, was in Zeiten von Wandel und Umbrüchen wirklich geschieht und wenn man mit komplexen Systemen arbeitet, dann besteht die Gestaltung von Veränderungsprozessen zum Großteil darin, dass man den verschiedenen Interessengruppen eines Systems hilft, die Probleme aus der Sicht der jeweils anderen Interessengruppe zu sehen. Dazu müssen sie sich in die Lage der anderen Interessengruppe versetzen können, insbesondere müssen sie lernen, die Situation aus der Sicht der am stärksten marginalisierten Interessengruppe zu sehen. Beim Beispiel des Gesundheitssystems in Namibia würde es bedeuten, dass man sich in die Lage der Patienten versetzt, die in entfernten Regionen leben und die tagelang zu einer Klinik reisen müssen. Dies wird den Entscheidern im System helfen, das System so neu zu gestalten, dass im Ergebnis die Prozesse so gestaltet sind, dass sie allen nützen, statt nur dem Wohlergehen einiger weniger Interessengruppen. Diese Transformation von Ego-System-Bewusstsein zu Öko-System-Bewusstsein ist heute die wichtigste Herausforderung für Führungskräfte.

Dies ist also ein Teil des Prozesses, in den Sie die Menschen mit hineinnehmen, um sie zu befähigen, über das Ego-System hinauszublicken, in das sie zuvor eingeschlossen waren?

Otto Scharmer: Ja, die allgemeine Herausforderung für Führungskräfte in fast allen institutionellen Feldern hat damit zu tun, sich vom organisationalen Ego-System-Bewusstsein zum Öko-System-Bewusstsein zu bewegen. Dieser Umschwung erfordert einen Entwicklungsweg. Wir nutzen dabei den U-Prozess, das heißt,  einen Weg, der auf drei Instrumente des inneren Wissens zielt: die Öffnung des Denkens (Open Mind), des Fühlens (Open Heart) und des Wollens (Open Will).
Open Mind ist die Fähigkeit, neu hinzusehen und alte Denkgewohnheiten außer Kraft zu setzen. Open Heart ist die Fähigkeit, sich einzuspüren und die Situation durch die Augen eines Anderen zu sehen. Open Will ist die Fähigkeit, loszulassen und kommenzulassen: Loslassen in Bezug auf alte Identitäten („Wir versus die Anderen“) und Kommenlassen als Erspüren meiner höchsten zukünftigen Möglichkeit.
Diese Arbeit mit dem U-Prozess haben wir auf vielen Ebenen entwickelt und eingesetzt. Doch heute mit 52 Jahren denke ich, dass meine wirkliche Lebensaufgabe erst richtig beginnt. Unser soeben erschienenes Buch, Leading from the Emerging Future (dt. etwa „Aus der entstehenden Zukunft führen“), war das Buch, das ich bereits seit meiner Studentenzeit schreiben wollte, und nun, nach der Finanzkrise, war die Gelegenheit plötzlich da. Ich bin so glücklich, dass es jetzt erschienen ist. Wir möchten es zu einem Mittel für eine soziale Erneuerungs-Mobilisierung machen, denn wir glauben wirklich, dass wir auf diesem Planeten eine neue Bewegung brauchen.

Danke für das Interview an „evolve „- Magazin für Bewusstsein und Kultur. www.evolve-magazin.de