Kooperationswille statt Konkurrenzdenken
Wie das „Pippi-Langstrumpf-Syndrom“ dazu führen kann, dass wir den Anschluss verpassen

Von  Ulrike Stahl *

Am Flughafen Miami habe ich selbst erlebt, wie leicht es passieren kann, dass man den Anschluss verpasst. Ich bin auf dem Weg nach Puerto Plata und mein Anschlussflug ist für 12:07 Uhr von Gate 9 angesetzt. Schon auf dem Abflugmonitor kann ich sehen, dass er nicht vor 12:20 Uhr abheben wird. Die Zeit nutze ich, um mir die Flughafengeschäfte etwas näher anzusehen. Der Boardingpass sagt ohnehin, dass das Gate erst 10 Minuten vor Abflug schließt. Als ich schließlich um 12:00 Uhr am Gate ankomme, hat das Boarding noch nicht einmal begonnen. Manche Mitreisenden kann ich als Heimreisende und andere als Touristen identifizieren. Was ich als etwas geschönt empfinde ist, dass die Anzeige nun 12:25 Uhr sagt mit dem Zusatz „on time“. Ändere Länder, andere Sitten, denke ich und setze mich. Die Wartezeit nutze ich, um schnell noch etwas auf mein Handy herunterzuladen. Alles scheint in bester Ordnung. Bis ich aus dem Lautsprecher höre „Ulrike Stahl to Puerto Plata. Last call.“ Ich schaue zu den Damen am Counter, die sich miteinander unterhalten und überhaupt nicht ungeduldig wirken. Dann fällt mein Blick noch einmal auf die Anzeige über dem Counter. „Guatemala-City, Gate 11“. Ich raffe meine Sachen zusammen und sprinte zu Gate 9, das zum Glück gleich nebenan ist. Hier schauen die Damen deutlich angespannter und als ich das Flugzeug betrete, kann ich an den Blicken der bereits anwesenden anderen Fluggäste ablesen, dass ich offensichtlich die Letzte bin. Ich lasse mich in meinen Sitz fallen und während sich mein Puls langsam wieder beruhigt, wird mir klar, was passiert ist. Ich bin dem „Pippi-Langstrumpf-Effekt“ auf den Leim gegangen. Unser Gehirn macht sich die Welt, wie es ihm gefällt. Und am besten gefällt es ihm, wenn es vorhandene Muster auf neue Situationen anwenden kann. Das spart Energie. Ich habe die Hinweise auf das richtige Gate schlichtweg ignoriert oder ausgeblendet. An diesem Flughafen wurden die Gates absteigend und nicht aufsteigend nummeriert, so wie es mir logisch erscheint. Ich hätte mich also unter dem Schild „Gate 9 & 11“ in die andere Richtung wenden müssen. Die Heimreisenden habe ich deswegen als solche identifiziert, weil sie mich an die Mexikaner erinnerten, bei denen ich ein Jahr verbracht habe. Guatelmateken und Mexikaner haben eine gewisse Ähnlichkeit, aber definitiv nichts Karibisches an sich. Und dann natürlich die Abflugzeit, die Angabe des Zielortes und die Nummer des Gates über dem Counter, alles offensichtlich.

Was hat das mit Erfolg im Wissenszeitalter zu tun?

Mit der Wirtschaft scheint auch alles in bester Ordnung zu sein. Das tatsächliche Wirtschaftswachstum übersteigt immer wieder die Prognosen und die Arbeitslosenzahlen sinken kontinuierlich. Und der Erfolg gibt doch schließlich recht, oder? Dabei sind wir genau dann besonders gefährdet. Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom lässt grüßen: Wir sehen das, was uns recht gibt und übersehen dabei möglicherweise alle Hinweise, dass wir auf dem falschen Weg sind…

Kooperationsfeindliches Klima

Bereits 2012 sagten vier von fünf Mitarbeitern in einer deutschlandweit angelegten Umfrage der Körber-Stiftung, dass sie unzufrieden seien über den Zustand der Berufswelt. Insbesondere klagten sie über überhöhtes Effizienzdenken, steigenden Egoismus und mangelnde Solidarität und rechneten dabei noch mit Verschlechterung. Kein Wunder, sind doch viele Manager noch immer davon überzeugt, dass Wettbewerb der effektivste Weg zur Leistungssteigerung ist und erzeugen ein entsprechendes Klima durch Guerillakämpfe unter CEOs, Silodenken, das an der Abteilungsgrenze endet, konkurrierende Zielsetzungen für ihre Mitarbeiter und Bonussysteme, die Zusammenarbeit schlichtweg unattraktiv machen. Kein Wunder, dass Einzelkämpfer und extrem wettbewerbsorientierte Menschen und Unternehmen immer härter arbeiten müssen – schließlich passen ihre antiquierten Gewinner-Verlierer-Strategien nicht mehr zu den Umweltanforderungen der Wissensgesellschaft.

Das Konkurrenzprinzip hat ausgedient

Das Konkurrenzprinzip ist ein Konstrukt des Industriezeitalters. Henry Ford sagte einmal sinngemäß „Alles was ich brauche sind zwei geschickte Hände, leider kommt immer ein ganzer Mensch mit.“ Was im Industriezeitalter gebraucht wurde, waren austauschbare Erlediger. Je austauschbarer sie waren, desto leichter konnte man sie durch wettbewerbsorientierte Bonussysteme anspornen, schneller und härter zu arbeiten. Das bedeutete aber auch, dass jemand vorgeben musste, wie jede Aufgabe exakt zu erledigen ist und alles genauestens überwachen. Die Arbeitsteilung, also das Zerlegen von Aufgaben in immer einfachere Schritte, wurde nicht nur in der Produktion eingesetzt, sondern fand auch den Weg in die Büros. Lange Zeit schien das gut zu funktionieren und führte auf praktisch allen Ebenen zu Fortschritt und Wohlstand.

Diese Zeiten sind inzwischen vorbei. Die einfachen Aufgaben werden von Maschinen oder Computern erledigt. Die Aufgaben, die durch Menschen erledigt werden müssen, sind entsprechend komplexer und erfordern mehr eigenständiges Denken und damit mehr Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Je komplexer eine Aufgabenstellung ist, umso wichtiger sind unterschiedliche Perspektiven, um sie zu lösen. Expertenwissen alleine hat wenig Wert, wenn es nicht mit anderem Expertenwissen kombiniert wird. Und das wiederum erfordert die Fähigkeit, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten und zwar auch gerade dann, wenn sie ganz anders sind und denken.

Damit wir nicht auf der Strecke bleiben

Gleichermaßen verändern sich die Erwartungen der Mitarbeiter an Unternehmen. Während die Generation der Babyboomer auf den Wettbewerbsdruck noch wie gewünscht mit erhöhter Einzelanstrengung aber gleichzeitig zunehmenden psychischen Problemen zu reagieren scheint, äußert die Generation Y den Wunsch nach einer höheren Werteorientierung, flacheren Hierarchien und mehr Partizipation, vor allem aber weniger Druck. Wer das übersieht, läuft Gefahr, den Anschluss zu verpassen oder im schlechtesten Fall sogar auf der Strecke zu bleiben. Da überrascht es nicht, dass scheinbar solide Unternehmen plötzlich ums Überleben kämpfen. Eigentlich hatte ich ja einen Direktflug mit Air Berlin nach Puerto Plata gebucht, aber leider hat das Unternehmen Insolvenz angemeldet und in diesem Zuge sein Karibikflugprogramm eingestellt, so dass ich einen neuen Flug buchen musste. Zum Glück lässt meine wirtschaftliche Situation das zu. Welcher irreversible Schaden wurde aber denjenigen zugefügt, die sich ihren Urlaub mühsam vom Mund abgespart haben oder bei denen nicht nur eine Person, sondern eine ganze Familie betroffen ist? Das Unternehmen rettet sich auf Kosten seiner Kunden und verspielt innerhalb weniger Monate deren Vertrauen. Das Vertrauen der Mitarbeiter wurde wohl schon weit früher aufs Spiel gesetzt, wenn diese sogar noch aktiv dazu beitragen, den Untergang zu beschleunigen, indem sie gemeinsam krank werden.

Dazu unser Buchtipp

Ulrike Stahl

So geht WIRtschaft!
Kooperativ. Kollaborativ. Kokreativ.

Über die Autorin
Silodenken macht Menschen müde. Als Gemeindekämmerin hat Ulrike Stahl das selbst erlebt. Ihren Erweckungsmoment hatte sie bei den Vereinten Nationen, wo Kooperation und Kollaboration weltweit Frieden, Recht und Wohlstand fördern. Seither hat sie bei über 2000 DAX-Unternehmen, Mittelständlern und Entrepreneuren die Dimensionen kooperativen Verhaltens erforscht. Als Professional Speaker inspiriert sie mit ihrem Credo: „Kooperativ. Kollaborativ. Kokreativ. So geht WIRTSCHAFT!“

www.ulrike-stahl.com