Sechs Thesen zu „Führung in digitalen Zeiten“: Herausforderung, Widerspruch oder doch nichts Neues?
von Marcus König, mensch.business*

Die Sozialwissenschaft verbindet mit dem Begriff Führung Attribute wie „leiten“, „die Richtung bestimmen“, „in Bewegung setzen“ und versteht darunter eine planende, koordinierende und kontrollierte Tätigkeit in Gruppen und Organisationen. Nicht mehr und nicht weniger! Der Volksmund kapriziert den Begriff Führung dann auf Einzelpersonen und webt viele Heldensagen, wie diese Führung ausgeübt haben oder ausüben. Hinzu kommt plötzlich eine New Work-Bewegung, die Führung anders definiert, indem sie Fragen nach Sinn und Nutzen integriert. Und jetzt auch noch Digitalisierung!

Reden wir unter dem Schlagwort Industrie 4.0 von Digitalisierung, so verbinden wir damit den weitestgehend eigenständigen Austausch von Information und Kommunikation von Hardware, also Produkten im weitesten Sinne. Da wird dann immer gerne als anschauliches Beispiel der Kühlschrank benutzt, der zukünftig den Verbrauch an Lebensmitteln erkennt und den daraus entstehenden Ersatzbedarf eigenständig an einen Lebensmittelmarkt übermittelt. In diesem – zugegeben sehr einfachen Beispiel – kommt der Mensch nicht vor. Wozu wird dann also Führung benötigt?

Mehr als nur Homeoffice!

Wer die Auswirkungen der Digitalisierung auf Fragen der Führung nur mit der Möglichkeit von Homeoffice verbindet springt hier eindeutig zu kurz. Sharing, Partizipation, Kooperation und Kollaboration in- und außerhalb der Unternehmen, mit Partnern und Konkurrenten, fordert die bisher zumeist hierarchisch strukturierten und alphatierartig sich generierenden Führungskräfte in neuer Weise. Sechs Thesen verdeutlichen die gravierenden Änderungen hinsichtlich Führung in digitalen Zeiten.

  1. Führung und Führungskraft entkoppeln sich

Fest steht: Führung wird es weiterhin und immer geben – nur wird sie eher entstehen, als angeordnet sein. Situativ wird in einem Team die Person für ein bestimmtes Thema die Führung übernehmen, die sich das zum einen zutraut, zum anderen aber auch die notwendige Kompetenz mitbringt. Wie bei einer Gruppe von Menschen, die sich beim Wandern im Wald verlaufen hat, wird derjenige automatisch die Führung übernehmen, der so etwas schon einmal erlebt hat, oder Kompetenzen mitbringt, die eine Orientierung in solch einer Situation benötigt. Die Akzeptanz der anderen Gruppenmitglieder ist damit auch kein Thema mehr. Nach der erfolgreichen Aktion tritt diese Person dann wieder automatisch in die Gruppe als Mitglied (Wanderer) zurück. Dadurch entsteht auch kein Zugzwang von programmatisch eingesetzten Führungskräften, stets die richtigen Antworten haben zu müssen, um den eigenen Status zu festigen oder nicht zu verlieren. Solch eine situative Übernahme von Führung auf Zeit birgt allerdings auch die Gefahr des ‚sich nicht einigen können’ mit sich. Um solche fruchtlose Diskussionen zu vermeiden bzw. diese möglichst zielgerichtet und fokussiert durchzuführen, kommen Moderations- und Mediations-Kompetenzen als zusätzliche Qualifikationen mit ins Spiel.

  1. Teammitglieder haben sich noch nie getroffen

Nicht erst durch die digitalen Nomaden entstehen virtuelle Teams, die orts- und zeitunabhängig miteinander an Themen arbeiten. Hat man bis heute immer noch den Drang, dass sich diese Menschen mindestens einmal persönlich getroffen haben müssen, wird es das zukünftig nicht mehr zwingend geben. Schon heute bezeichnet man in sozialen Medien – wie Facebook – Menschen, die man noch nie gesehen hat, als Freunde. Vergangene Generationen hatten mit dem Begriff komplett andere Assoziationen. Dieser Trend wird durch die zunehmende Projektarbeit und damit verbundenen Teams auf Zeit noch eher verstärkt. Die Herausforderung ist hier die Zusammenarbeit zu organisieren – also Führung zu übernehmen. Teamspirit ist dabei auf andere Weise zu erzeugen als bisher über Präsenzmeetings oder Teambuilding-Workshops. Auch hier werden Elemente aus der Social Media Welt Einzug halten. Gleiche Interessen, Gruppen, Posts, gemeinsame Bekannte oder virtuelle Gruppen erzeugen das zukünftige Zusammengehörigkeitsgefühl. Allerdings sind Mitarbeiterbindung und Loyalität dadurch auch schnelllebiger und verlieren an Stellenwert.

  1. HR wird Human Relationship

Human Ressources war noch nie ein glücklicher Name für Personalabteilungen, verbindet man mit Ressourcen doch auch Rohstoffe, Materialien und Ähnliches. Die Aufgaben des Personalwesens werden sich zukünftig grundlegend ändern. Kernaufgabe wird das zur Verfügung stellen von Rahmenbedingungen und Orientierung zusammen mit der Beseitigung von Barrieren sein. Unnötiger Ballast, wie Kontrollen, Rechtfertigungsmeetings, Genehmigungstorturen sind hier genauso zu vermeiden, wie die Einengung an Möglichkeiten. Flexible Beschäftigungsmodelle, neue nicht-monetäre Belohnungssysteme, Vereinbarkeit von privaten Interessen mit dem geschäftlichen Auftrag, sind nur ein paar Beispiele dafür. Permanentes Kompetenzmanagement wird an Wichtigkeit deutlich zunehmen. Es wird nicht mehr von Belang sein, welche Ausbildung eine Person vor 20 Jahren mal erfolgreich abgeschlossen hat, sondern wer für die jetzige Herausforderung die notwendigen Expertisen und Fähigkeiten mitbringt. Das ändert sich laufend und ist daher aktuell zu halten und zu betrachten. Eine weitere Kernaufgabe wird die Attraktivität des Unternehmens für zukünftige Teammitglieder sein. Recruiting verändert sich von ‚die Firma sucht aus’ zu ‚der Einzelne sucht sich die passende Firma aus’. Kultur, Freiheitsgrad, Sinn & Nutzen der Tätigkeit sind da wesentliche Kriterien.

  1. Informationsgeschwindigkeit forciert Konfliktmanagement

Permanent online sein, Informationen nahezu in Echtzeit teilen zu können und das an unbegrenzte Adressaten birgt auch Gefahren mit sich, die zu Konflikten werden können. Es ist nicht mehr möglich, in der gleichen Geschwindigkeit diese Ereignisse zu analysieren und zu bewerten. Die Zeit, die wir Menschen dazu benötigen würden, wird schon von Gegenkommentaren, Antworten, Weiterleitungen genutzt. So verselbstständigen sich diese Informationen, was zu Missverständnissen oder gar Unwahrheiten führen kann. Shitstorm ist dann nur eine „Antwort“ darauf. Um aus diesem Phänomen in Unternehmungen keine gravierenden Konflikte entstehen zu lassen, ist Eingreifen in Form von Aufklärung, Mediation und Moderation notwendig. Whatsapp, Posts, Like’s und Unlike’s haben nun einmal die Eigenschaft ‚in Stein gemeißelt’ zu sein. Da sind Missverständnisse programmiert.

  1. Können wird wichtiger als Wissen – eine neue Fehlerkultur

Heute steht im Internet nahezu Jedem unbegrenzten Wissen zur Verfügung. Man muss es nur finden und anwenden. Ob das dann aber zum Erfolg führt, hängt vom Können des Jeweiligen selbst ab. Reparaturanleitungen gibt es mittlerweile in Bild und Ton abrufbar, trotzdem wird nicht jeder Mensch einen Staubsauger auch tatsächlich reparieren können. Das bedeutet, es kommt vielmehr auf den Umgang mit Wissen an, auf Erfahrungen, auf den Mut, Dinge anzupacken. Das schließt die Möglichkeit, Fehler zu machen, mit ein. Wie aber wird mit solchen Fehlern umgegangen? Man spricht in Unternehmen gerne und oft von der Fehlerkultur, die es erlaubt, Fehler zu machen. Das ist ein häufig bemühter fataler Ansatz. Niemand will Fehler machen. Fehler zu erlauben, ist auch nicht zielführend, bedeutet es doch, dass etwas, was man hätte wissen müssen, falsch gelaufen ist. Was hier gemeint ist, sind Irrtümer. Der Unterschied zum Fehler besteht beim Irrtum darin, dass ich vorher nur eine wage Vorstellung davon hatte, wie etwas funktioniert könnte. Unabhängig davon, ob man diese feine Unterscheidung macht oder nicht, Fehler zu machen oder Irrtümer zu begehen, kann nicht das Ziel sein, sondern aus dergleichen zu lernen, ist die gefragte Reaktion. Hier zeigt sich eine Fehlerkultur.

  1. Flexibilität wird ein Erfolgsfaktor

Wer in Zukunft flexibel auf die Anforderung von Menschen eingeht, die an Themen innerhalb der Unternehmung arbeitet, wird dauerhaft die guten Talente um sich scharen und Erfolg haben. Das beginnt mit dem Wunsch, in seiner IT- Umgebung zu arbeiten (Apple vs. Windows) und geht über unterschiedliche Auffassung über Ort und Zeit von Arbeit bis hin zu neuen Beschäftigungsmodellen und Belohnungssystemen. One-fits-all gehört der Vergangenheit an und Firmen sind gut beraten, auf Wünsche möglich einzugehen.

Jede einzelne These ist nicht eindeutig einer digitalisierten Welt zuzuordnen, wird durch eine solche allerdings weitestgehend unterstützt oder gar befördert. So ist das Arbeiten an verschiedenen Orten über Homeoffice-Konzepte durchaus schon ein erprobter Bereich. Allerdings sieht das in der Praxis eher spärlich mit 2 – 3 Tagen pro Monat und festen Präsenzterminen als Rituale vor. Was all die angesprochenen Themen eint, ist die Gewissheit, dass diese Art der Veränderung das neue Normale sein und immer kürzere Zyklen durchlaufen wird.


*Marcus König begleitet als facettenreicher Berater und Coach Unternehmen in Veränderungsprozessen. Mehr als 25 Jahre Erfahrung in Managementpositionen in verschiedenen Ländern mit wechselnden Aufgaben und Verantwortungen hat seinen Umgang mit Menschen geprägt. Er betrachtet Prozesse immer an der Schnittstelle Mensch/Business, d. h. der Mensch wird in den Mittelpunkt des geschäftlichen Handelns gerückt. Seine Überzeugung: „Die besten Prozesse und Produkte funktionieren am besten mit zufriedenen, motivierten und engagierten Menschen.“ www.menschbusiness.de