Dirk Helbing: Wir müssen Wirtschaft und Politik neu erfinden

Prof. Dirk Helbing schaut auf die Chancen der digitalen Revolution. Er plädiert für ein Update der Demokratie, setzt auf das Finanzsystem 4.0 und entwirft eine Vision für eine zukunftsfähige Gesellschaft. 

Elita Wiegand führte das Interview mit Prof. Dirk Helbing.

Prof. Dirk Helbing

In unserem kapitalistischen System ist die Gier stark ausgeprägt: mehr haben wollen, noch höhere Umsätze, koste es, was es wolle. Mit welchen Folgen?  

Dirk Helbing: Die Folgen kann man an den Industrien sehen, die momentan im Gerede sind: Das ist die Erdöl-und die Automobilindustrie. Mit dem Erdöl wurde es möglich, die Industrialisierung voranzutreiben. Als Maschinen schwere Arbeiten übernahmen, hat sich die Tragfähigkeit der Erde zunächst einmal erhöht. Es konnten viel mehr Menschen auf der Erde leben. Aber mit dem Energiekonsum sind nicht nur die Bevölkerungszahlen explodiert, sondern auch die Nebenwirkungen des Erdölzeitalters. Jetzt müssen wir den Preis dafür bezahlen. Die Zukunft unseres Planeten ist gefährdet. Aber statt die existenziellen Probleme der Menschheit zu lösen, verteidigen die großen Unternehmen ihre alten Businessmodelle. Das kann nicht gut gehen.

Sie schlagen ein Finanzsystem 4.0 vor, um soziales und ökologisches Engagement zu belohnen. Wie muss man sich das vorstellen? 

Dirk Helbing: Was mir vorschwebt ist ein sozio-ökologisches Finanzsystem, das mit unseren gesellschaftlichen Werten kompatibel ist. Es könnte neue Kräfte in Richtung einer Kreislaufwirtschaft und Sharing Economy entfesseln. Man stelle sich vor, dass in Abfallstoffen Sensoren eingebaut wären, die einem sagen würden, welche Materialen darauf warten, wiederwertet zu werden. So etwas lässt sich jetzt bauen, und zwar wenn man das Internet der Dinge mit elektronischem Zahlungsverkehr kombiniert, etwa mit Blockchain-Technologie. Das Finanzsystem 4.0 würde ein multi-dimensionales Anreizsystem schaffen und gleichzeitig dazu dienen, öffentliche Infrastrukturen zu finanzieren. Für CO2 Ausstoß, Lärm, Abfallstoffe und vieles mehr gäbe es unterschiedliche Währungen, sodass man dann differenzierte Anreize setzen könnte. Das braucht es, um komplexe Systeme zu steuern. Diese Anreize kann man so gestalten, dass die Werte der Gesellschaft durch Selbstorganisation erreicht werden. Wirtschaft und gesellschaftliche Werte würden sich gegenseitig verstärken. So könnten alle profitieren: Bürger, Banken und Unternehmen. Im Sinne von digitaler Demokratie und kollektiver Intelligenz würde das Finanzsystem 4.0 gemeinsam durch Beteiligung von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und der breiten Bevölkerung gemanagt.

Nun sagen Sie, dass auch unsere Demokratie ein „Update“ benötigt. Wie kann die Demokratie zukunftsfähig gemacht werden? 

Dirk Helbing: Für die Zukunft müssen wir bessere Lösungen finden, Lösungen, die für mehr Menschen funktionieren, sodass wir alle unsere Ressourcen und Talente besser entfalten können. Wenn Roboter für uns in absehbarer Zukunft alle lebensnotwendigen Güter produzieren, können wir die so gewonnene Zeit mit kreativen und sozialen Tätigkeiten verbringen. Die digitale Demokratie zielt darauf ab, die kollektive Intelligenz zu fördern. Wir müssen unser Wissen und die Ideen von vielen zusammenführen, denn in komplexen Systemen findet man die besten Lösungen durch Kombination von vielen Einzellösungen, weil es verschiedene Perspektiven auf das Problem braucht. Das erfordert jedoch gewisse Voraussetzungen wie unbeeinflusste Informationssuche und Diversität. Erst dann, wenn verschiedene Akteure, Individuen und auch Institutionen zu ihren Schlussfolgerungen gelangt sind, sollte man an einem runden Tisch integrierte Lösungen erarbeiten, die besten auswählen und umzusetzen.

Viele sind veränderungsresistent, klammern sich an Altes, und bei einem Umbau des Wirtschafts-und Finanzsystems sowie einem Upgrade der Demokratie, stößt man sicherlich auf Skepsis. Wie überzeugen Sie die Kritiker?  

Dirk Helbing: Wir müssen mutiger denken: Neue digitale Technologien, demokratisch gesteuert und eingesetzt in einem renovierten Wirtschafts- und Finanzsystem könnten unsere Ressourcenprobleme lösen. Dafür brauchen wir aber neue digitale Plattformen. Facebook ist dafür nicht geeignet. Vielmehr müssen die Plattformen in der Lage sein, verschiedene Ideen und Argumente zu sammeln, zu strukturieren und zu überprüfen. Schon heute gibt es Plattformen wie das „Deliberatorium“ vom MIT.

Sie müssen aber noch komfortabler werden. Dabei könnten Künstliche Intelligenzsysteme helfen, kombiniert mit menschlichen Moderatoren. Das entscheidende Stichwort heißt MOODs (englisch für „Massive Open Online Deliberation Platforms“, auf Deutsch würde man etwa von offenen Online-Deliberationsplattformen sprechen). Kurzum: Es geht darum, möglichst viel Wissen und Ideen zu sammeln und Perspektiven herauszukristallisieren, damit man im Blick hat, worauf es ankommt.

Wie erreichen wir den Innovationsschub, den wir jetzt brauchen, um unsere Wirtschaft und Gesellschaft zur Hälfte neu zu erfinden?

Dirk Helbing: Wir müssen jeden in die Lage versetzen, innovativ zu sein. Open Data und Open Innovation können hier helfen, aber für Leute mit Ideen und Engagement braucht es auch besseren Zugang zu Ressourcen. Im Prinzip wäre denkbar, dass die Zentralbanken ihre x Milliarden nicht mehr per Quantitative Easing ins Finanzsystem pumpen, wovon nur wenige profitieren. Sie könnten das frisch erzeugte Geld stattdessen als Investmentprämie an die Bürger überweisen, die sie an Menschen verteilen sollten, die gute Ideen haben, sich engagieren, Umweltprojekte umsetzen oder Initiativen, die dafür sorgen, dass der öffentliche Raum sauber ist, ein Kindergarten gebaut, ein neuer Park angelegt oder eine Straße ausgebessert wird. Die Bürger wissen am besten, wo ihnen der Schuh drückt und wo investiert werden müsste. Das wäre ein „Crowdfunding für alle“ oder schlicht „demokratischer Kapitalismus“. Wir hätten dann gewissermaßen ein Stimmrecht bei Investitionen und könnten so pluralistische Innovationen auf den Weg bringen. So würde ein Informations- und Innovations-Ökosystem entstehen, zu dem alle beitragen könnten und von dem alle profitieren würden.

Nun sehen Sie im Zuge der kollektiven Intelligenz auch Städteolympiaden, die zur einer Innovationsmaschine werden könnten, aber wie?   

Dirk Helbing: Stellen Sie sich vor, die Städte der Welt und die Regionen um sie herum würden sich alle zwei oder vier Jahre an einem globalen Wettbewerb um die umweltfreundlichsten, energieeffizientesten, klimaschonendsten, sozialverträglichsten, nachhaltigsten und krisenfestesten Lösungen beteiligen. Neben verschiedenen Wettbewerbsdisziplinen gäbe es verschiedene „Gewichtsklassen“: Klein- und Großstädte zum Beispiel. Für die Olympiaden würden Forscher, Ingenieure, Bürgerwissenschaftler und Bastler („Makers“) neue Erfindungen machen. Die Medien würden berichten. Die Wirtschaft würde bessere Produkte anbieten und die Politik die Bürger mobilisieren. Die Erfindungen wären Open Source, so dass alle von ihnen lernen und sie weiterentwickeln könnten sowie neue Businessmodelle und Unternehmen entstehen könnten. Zwischen den Wettbewerben würden sich die Städte über ihre Lösungen austauschen und voneinander lernen, die passfähigsten Lösungen kopieren und umsetzen. So kämen Experimentierfreude, Genialität, lokale Diversität, Wettbewerbsgeist, Kooperation und Lernen zusammen. Die besten Lösungen würden sich schnell verbreiten. Das wäre eine richtig tolle Innovationsmaschine.

Was fehlt denn noch, um nun die Zukunftsgestaltung anzustoßen? 

Dirk Helbing: Die Zeit ist überreif für eine öffentliche Diskussion, wo wir im Digitalen Zeitalter hinwollen, und für kluge Investitionen in die Gestaltung unserer Zukunft – statt für die Aufrechterhaltung einer überkommenen Vergangenheit. Es besteht die Chance, aus der Automobilkrise zu lernen, dass wir mehr Mut zum Wandel brauchen. Es wäre schade, wenn wir die Chance verpassen. Vielleicht verstehen wir jetzt besser, wie wir digitale Technologien nutzen sollten. Wenn wir es richtig anpacken, dann können wir bald ein „goldenes Zeitalter“ erleben – eine Ära von Frieden und Prosperität.

Über Prof. Dirk Helbing 

Dirk Helbing ist seit 2007 Professor für Computational Social Science am Department für Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie Mitglied des Informatikdepartments der ETH Zürich. Seit Juni 2015 ist er assoziierter Professor an der Fakultät für Technik, Politik und Management an der Technischen Universität Delft, wo er die Doktorandenschule „Engineering Social Technologies for a Responsible Digital Future“ leitet.